Ein Beitrag von Anne Komischke
Ein Spaziergang durch das Lüneburg um 1900
Lüneburg hätte an der ersten Bahnstrecke des Deutschen Reiches liegen können – statt dessen mussten die englischen Ingenieure John Taylor und Charles Vignoles ihren Plan von 1833 zwischen Nürnberg und Fürth verwirklichen. Das Hannoversche Königshaus – im Allgemeinen sehr Eisenbahn-skeptisch – befürchtete durch die geplante Streckenführung vom Warenverkehr abgehängt zu werden. Doch der Zug der Zeit ließ sich nicht aufhalten: Die preußische Regierung in Berlin drängte auf den Bau einer Ost-West-Bahn über Braunschweig – Hannover – Minden in die Rheinprovinzen. Lüneburg sollte ein Eisenbahndrehkreuz im norddeutschen Raum werden. Von Lüneburg aus – nicht nur – in die Lüneburger Heide!
Die Eisenbahn kommt, …
Auch die Stadt Lüneburg geriet zunehmend unter Druck, als die Braunschweiger Kaufmannschaft den Bau einer Bahntrasse von Lehrte über Celle, Uelzen und Lüneburg nach (Hamburg) – Harburg forderte. Am 10. Juni 1843 ordnete die Regierung dies durch einen Erlass an. Auftraggeber war die Hannoversche Staatsbahn.
„Der Rat der Stadt [Lüneburg] stand bei der vorgesehenen Trassenführung über Celle – Uelzen – Lüneburg – Winsen vor einer schwerwiegenden Entscheidung: Es war vorauszusehen, daß eine Zustimmung zu diesem Plan der Ilmenauschiffahrt schweren Schaden zufügen und die Bedeutung Lüneburgs als Umschlag- und Stapelplatz schmälern würde.“
Die Landesregierung jedoch übte starken Druck aus, der Rat stimmte letztendlich zu. Die Bauarbeiten und Vermessungen begannen 1844, die schweren Erdarbeiten waren im Sommer 1845 abgeschlossen. Für Lüneburgs erste Eisenbahnstrecke musste sogar die Ilmenau in Höhe Wilschenbruch verlegt werden, was in den folgenden Jahren immer wieder zu Überschwemmungen führte. Im Frühjahr 1847 war es soweit, die Strecke konnte eröffnet werden. Die Begeisterung der Lüneburger ließ jedoch weiterhin auf sich warten: Der bekannte Lüneburger Stadtchronist Wilhelm Reinecke berichtet in seiner vielzitierten Stadtgeschichte:
„Am 6. März rollte ein Zug, bestehend aus der Lokomotive »Ernst August«, nebst Tender-, Pack- und einem Personenwagen 2. Klasse, mit höheren Beamten bis Harburg, um am nächsten Tag nach Hannover zurückzukehren. Am 01. Mai, einem schönen Frühlingsmorgen, wurde die Bahn eröffnet. Viele Zuschauer wohnten dem Schauspiel der sich in Lüneburg begegnenden Maschinen bei, aber kein Willkommensgruß ertönte: ‘Stumm sah man die Züge ankommen und abgehen.’ – Konnten viele sich doch von der Eisenbahn kein Heil für die Stadt versprechen. […]“
Und trotzdem folgten weitere Strecken: Am 15. März 1864 nahm die Hannoversche Staatsbahn die Strecke von Lüneburg nach Hohnstorf an der Elbe in Betrieb. In Hohnstorf mussten die Reisenden auf die Dampfschiffe der »Hohnstorfer Trajektanstalt« umsteigen, die Güterwagen wurden mittels einer Seilwinde auf das Wasserfahrzeug hinabgelassen bzw. hochgezogen. Am anderen Ufer stand der Zug nach Lübeck bereit. Die Brückenquerung wurde erst am 01. November 1878 eröffnet.
Die dritte Linie wurde ab 1874 von Wittenberg über Dömitz und Dannenberg nach Lüneburg geführt, von da aus dann weiter bis Buchholz in der Nordheide. Dahinter steckten militärische Überlegungen: Die Preußische Regierung plante eine schnelle Verbindung von Berlin an die Nordseehäfen unter Umgehung von Hamburg. Über Buchholz sollten die Züge weiter bis Bremervörde und Bremerhaven fahren. Der Personenverkehr zwischen Lüneburg und Buchholz wurde im Mai 1981 eingestellt, der Güterverkehr wenige Jahre später. Die Teilstrecke Dannenberg – Lüneburg wird noch als Stichbahn betrieben, die so genannte »Wendlandbahn«. Auf dieser Strecke liefen auch die berüchtigten Castor-Atommüll-Transporte ins Zwischenlager Gorleben ab.
Eine weitere Kleinbahnstrecke wurde 1913 zwischen Lüneburg und Soltau eröffnet, die bereits 1894 von Lüneburger Kaufleuten gefordert worden war. Auch diese Strecke ins ländliche Umland der Stadt wurde von der Bevölkerung gut angenommen: Behörden in der Kreisstadt waren gut zu erreichen, der Handel nahm zu, Amelinghausen blühte auf, Landwirte konnten ihre Erzeugnisse schneller versenden und erhielten Dünger, Saatgut und Kohlen.
… das Speditionswesen geht
Lüneburg als Stadt am Wasser gilt seit jeher als Handelsstadt. Der Schiffsverkehr bildete seit dem Mittelalter eine Einnahmequelle für die Stadt in nicht geringer Höhe. „Seit dem 16. Jahrhundert trat der Transithandel überhaupt in den Vordergrund des Erwerbslebens im Lüneburgischen.“ Mit seiner Lage an der schiffbaren Ilmenau gehörte Lüneburg zu jenen Städten, die sich für das Umschlagen von Waren und Gütern aufs Schiff und vom Schiff besonders eigneten – auch in Kriegszeiten. Als im 17. Jahrhundert der Salz- und Kalkhandel zurückging, entwickelte sich ein reges Speditionswesen zum Hauptgeschäft. Der Kran am Kaufhaus war ständig im Betrieb.
„Man hat die Jahresumschlagmenge für den Lüneburger Hafen für 1825 auf ca. 350.000 t berechnet. Der daraus fließende Gewinn von jährlich 400.000 bis 500.000 Talern kam in erster Linie der Stadt zugute. Schätzungsweise lebten zwei Drittel der Lüneburger Bevölkerung vom Transithandel.“
Die Erbauung der Eisenbahnen bedeutete den Niedergang des Speditionshandels. Zur Zeit der Hochkonjunktur des Transithandels zogen 49 Speditionsfirmen und 200 Fuhrleute in Lüneburg aus ihm Gewinn. Doch der Rückgang des Ilmenauverkehrs war nicht aufzuhalten. Die den Lüneburger Hafen passierende Frachtgütermenge sank bereits von 1818 bis in die 1840er Jahre um zwei Drittel. Der Eisenbahnvertrag zwischen Lüneburg und der Staatsregierung von 1847 besiegelte das Ende der Ilmenauschiffahrt als gewinnbringenden Verkehrsweg. Bis 1849 reduzierte sich die Anzahl der Speditionsfirmen auf drei. Die ehemaligen Speditionskaufleute mussten sich anderen Erwerbsmöglichkeiten zuwenden. Aus ihren Reihen kamen die ersten Industrie-Unternehmer.
Ein Bahnhof – Zwei Empfangsgebäude
Doch zuvor musste ein repräsentativer Bahnhof geschaffen werden: Bahnhöfe stellten ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine neue, bis dahin unbekannte Bauaufgabe dar, für die kein allgemein anerkanntes, gestalterisches Repertoire vorhanden war. Für den Bahnhof gab es keinen per se geeigneten Formenkanon. Anregungen fanden die Architekten in Vielfalt und Funktion bei Schlössern und Kathedralen für die Empfangsgebäude, bei Gewächshäusern mit ihren riesigen Glasdächern für die Gleishallen (in Großstädten).
„Dabei verbanden sich in dem charakteristischen Architekturensemble des Bahnhofs […] intimere Räume mit dem Maß des Menschen und robustere, voluminösere Räume mit dem Maß der Maschinen.“
Das Empfangsgebäude stand den Gleisen vor und fügt sich damit dem für das 19. Jahrhundert so typischen Bestreben, das Industrielle, Maschinelle der Neuerung Eisenbahn zu verdecken. Auch in Lüneburg betritt man den Bahnhofsvorplatz und findet sich flankiert von den beiden Bahnhofsgebäuden, von Schienen ist jedoch nichts zu sehen.
„Das Empfangsgebäude des 19. Jahrhunderts war stilistisch der Vergangenheit verpflichtet, obwohl es das Entree zu einem revolutionären Verkehrsmittel darstellte.“
Der heutige Bahnhof Lüneburg besteht aus den beiden ehemals eigenständigen Bahnhöfen Ost (Baujahr 1847) und West (Baujahr 1874) der Stadt Lüneburg. Der Bahnhof Ost ist heute der eigentliche Bahnhof, auch wenn das Empfangsgebäude nicht mit dem des Westbahnhofs mithalten kann. Dort ist zwar heute eine Spielbank untergebracht, jedoch beherrscht es den Bahnhofsvorplatz mit seiner hoch aufragenden, klassizistischen Fassade.
Der Bahnhof Lüneburg West entstand an der Bahnstrecke Berlin – Bremen, wo eine der großen Auswandererwellen die alte Heimat verließ. Die Empfangsgebäude auf den Zwischenbahnhöfen an den zwischen 1843 und 1850 im Königreich Hannover erbauten Strecken, zu denen auch das Empfangsgebäude Ost gehörte, sind nach Planungen des hannoverschen Architekten G. C. Laves gebaut und zeichnen sich durch eine ähnliche Formensprache aus:
„Der Lüneburger Bau [gemeint ist das Empfangsgebäude Ost], begonnen 1847, steht in dieser Reihe als geputzter, gelblich gestrichener Massivbau mit englischem Schiefer eingedeckt und noch in weiteren Einzelheiten der ursprünglichen, sorgfältig abgewogenen Erscheinung den edlen Lavesschen Bauten durchaus ein.“
Und auch im Gesamtblick der vielerorts entstehenden Bahnhöfe in mittleren Städten fügt sich das Lüneburger Ensemble in den gängigen Formenkanon ein:
„ein additives, am liebsten mit elementaren geometrischen Formen arbeitendes Komponieren, eine Überschaubarkeit sowohl der Baumassen als auch der Grundrisse, die Betonung von Symmetrie und Axialität.“
Kunst im Bahnhof
1939 erhielt der in Bardowick ansässige Künstler Hugo Friedrich Hartmann (1870 – 1960) den Auftrag zur Wandgestaltung in der Eingangshalle des Empfangsgebäudes Ost. Betritt man die Eingangshalle von den Gleisen aus – denn die Bilder richteten sich an die ankommenden Gäste der Stadt – sieht man rechts auf der nördlichen Wand eine mittelalterliche Stadtansicht Lüneburgs, basierend auf einer Radierung Matthäus Merian d. Älteren aus seiner »Topographia Germaniae« von 1654. Auf der linken Seite ist eine nostalgische Darstellung der Lüneburger Heide zu sehen.
Hartmann, Maler und Grafiker der Dresdner Schule von Gotthard Kühl, kam 1896 erstmals auf einer Studienfahrt mit der Königlich Sächsischen Kunstakademie in die Heide. 1897 ließ sich der aus Rosenberg/Westpreußen stammende Künstler in Bardowick nieder und begründete mit dem Bezug des »Haus St. Lucas« die Bardowicker Künstlerkolonie. Hartmann war zudem Mitglied in mehreren großen Künstlervereinigungen, wie »Die Heidjer« (1901-1905), »Bund Nordwestdeutscher Künstler« (ab 1905) und »Hamburgische Künstlerschaft« (ab 1907) und schuf als Landschafts- und Tiermaler des einfachen Lebens auch weitere große Wandbilder in weiteren repräsentativen Gebäuden Lüneburgs (Reiterkaserne Bleckeder Landstraße, Rathaus).
Immer wieder nahm er auch an Ausstellungen gemeinsam mit »den Worpswedern« teil und war fest in der aufbrechenden, norddeutschen Künstlerszene verankert. Seiner Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten konnte er nicht entgegenwirken, auch wenn er als unpolitischer Künstler nicht an der verordneten »neuen deutschen Malerei« teilnahm. Man nutzte seine Bilder für propagandistische Zwecke. So erhielt er vielfache Würdigungen und Preise, u. a. den »Niederdeutschen Malerpreis« 1939, der wohl auch Auslöser des Bahnhofsauftrages war. Hartmanns Kunst trug das Label: »artgemäß«, »volksnahe Kunst«, was auch in den Darstellungen der Bahnhofshalle deutlich wird. Ohne jegliche Abstraktion gibt Hartmann die Heide und auch die Lüneburger Stadtansicht wieder. Die Tatsache, dass Lüneburg sich bereits 1939 entschloss, sich ankommenden Reisenden mit einem Bild vergangener Zeiten, einerseits zur Zeit seiner größten Wirtschaftskraft, andererseits die Heide als geschlossener Naturraum, zu präsentieren, zeigt, wie sehr sich die Stadt bereits darauf stützte, Menschen mit eben diesem vergangenen, nostalgischen Bild für sich zu gewinnen.
Der Bahnhof und die Stadt: Ein neues Viertel entsteht
Verlässt man den Bahnhofsvorplatz in Richtung Norden trifft man auf eine der ersten Hauptverkehrsadern der Stadt, die Bleckeder Landstraße. Mit der Zunahme des innerstädtischen Verkehrsaufkommens durch die vielen Zu- und Abreisenden war schon bald die Anlage von neuen Straßen und Wegen notwendig: Die Bahnhofsstraßen wurden angelegt und mit ihnen „die ersten Hauptverkehrsadern [der Städte]“ , die zwischen den Bahnhöfen und den Stadtzentren entstanden. Diese fehlenden Verbindungsstücke zwischen den oft noch ummauerten Innenstädten und den gerade entstehenden Bahnhofsvierteln wurden entsprechend repräsentativ angelegt, waren gepflastert, breit, mit Alleebäumen gesäumt und schon bald dicht bebaut . Parallel zur Bleckeder Landstraße, angelegt 1877, verläuft auf der anderen Seite des Bahnhofes die Dahlenburger Landstraße, seit 1893 bebaut mit gleicher Funktion. Die Namen beider Straßen wurden jeweils zeitgemäß an die politischen Verhältnisse angepasst. Repräsentative Straßen hatten auch einen repräsentativen Namen zu tragen. So hieß die »Bleckeder Landstraße« zu Beginn »Bleckeder Heerstraße«, von 1939 – 1945 »Legion-Condor-Straße«.
Gleich hinter den Eisenbahnbrücken gelangt man vom nördlichen Gehweg aus über einen schmalen, steilen Aufgang hinauf zur Straße »Beim Holzberg«, ein ehemaliger Holzlagerplatz, angelegt als bewohnte Straße seit 1860. Vor der Wohnbebauung und auch noch währenddessen wurden hier von der Stadt Holzlagerplätze verpachtet, unter anderem an die Firma F. P. Fehlhaber, Dampf-Sägewerk, Nutzholz-Handlung, Fassholz-Fabrikation, Heu- und Strohpresserei , die sowohl Rohstoffe als auch fertige Produkte von hier aus schnell per Eisenbahn verfrachten konnte.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Bleckeder Landstraße blickt man auf das Stammhaus eines der ältesten Lüneburger Familienunternehmen: Die Firma W. L. Schröder Eisenwarenhandlung. Das Unternehmen wurde 1865 in der Lüneburger Glockenstraße (Altstadt) von Wilhelm Ludwig Schröder (1839 – 1916) gegründet und zog 1913 in die Bleckeder Landstraße. Das Haus trägt den typischen Charme der Industriebauten des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Wenig Schmuck und doch imposant durch seine Höhe und Breite, der dunkle Backstein wurde zur Strukturierung der Fassade genutzt, besonders der Eingang wird mit den zwei gemauerten Säulen hervorgehoben. Das Haus war Geschäftshaus und Produktionshalle gleichermaßen.
Mittlerweile nehmen diverse Lagerhäuser und andere Gebäude der Firma fast den gesamten Pulverweg ein, dessen Einmündung man ebenfalls auf der gegenüberliegenden Straßenseite sieht. Im Pulverweg, 1922 amtlich so benannt, im Volksmund aber von jeher so bezeichnet, weil hier Pulverlieferungen langgeführt wurden, die nicht durch das Innere der Stadt fahren durften , hatten sich um die Jahrhundertwende zahlreiche weitere Großunternehmer und Fabrikanten angesiedelt, die ebenfalls die Nähe zur Eisenbahn nutzten, so bspw. landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, die Produkte aus dem ländlichen Raum zur Vermarktung in die Stadt brachten. In der Bleckeder Landstraße 1a war ab 1925 eine Maschinenschlosserei mit einer „Spezialreparatur für Dampfkessel-Lokomobile“ untergebracht.
Geht man die Straße »Am Holzberg« weiter entlang, so folgt man gleichzeitig den Schienen in nur wenigen Metern Entfernung. Östlich (in vorgeschlagener Gehrichtung rechts) ergibt sich zwischen kleinen Einfamilienhäusern ein Blick auf die Rückseite der Dammstraße. Es lohnt sich, diese schlichten Rückseiten in Erinnerung zu behalten.
Zunächst läuft man jedoch geradezu auf ein großes würfelförmiges Haus mit Tonnendach zu, gemauert in verschiedenen Ziegelfarben, derzeit umgeben von einem hohen Sicherheitszaun. Dies ist das Empfangsgebäude des ehemaligen »Bleckeder Bahnhofes«, der Gleisanschluss direkt neben dem Haus ist noch sehr gut zu erkennen. Zwischen 1895 und 1973 verkehrte hier die Kleinbahn Lüneburg – Bleckede, ab 1904 mit einer leicht veränderten Trassierung, die, nachdem gegen Ende 19. Jahrhundert alle großen Städte ans Eisenbahnnetz angeschlossen und miteinander verbunden waren, durch Forderung von Handel- und Gewerbetreibenden und Landwirten entstand.
Die Eisenbahn sollte nun auch ländliche Gebiete erschließen! Der Staat hatte die Notwendigkeit erkannt und verabschiedete das »Gesetz über Klein- und Privatbahnen« vom 28. Juli 1892, mit dem volkswirtschaftlichen Ziel, dass landwirtschaftliche Erzeugnisse schneller abfließen könnten. Das Fahrgastaufkommen war auch in den 1950er und 60er Jahren auf dieser Strecke noch enorm, konnte jedoch nicht gehalten werden auf Grund zunehmender Motorisierung der Bevölkerung. Das Ende des planmäßigen Personenverkehrs war am 21. Mai 1977 nach 73 Jahren. Heute verkehren hier nur Gütertransporte und gelegentlich Sonderzüge von Eisenbahnfreunden. Direkten Zutritt zu den Gleisen hatten vor allen anderen die Bewohner der Dammstraße, auf die die Straße Beim Holzberg zuführt.
Die Dammstraße: Zwischen Eisenbahn und Arbeitersiedlung
In direkter Nähe zu industriellen und gewerblichen Anlagen wurde um 1900 die Dammstraße als großbürgerliche Stadterweiterung angelegt. Sie besteht nahezu vollständig aus Stadthäusern, den Gegenstücken zur Villa. Stadthäuser sind in eine Häuserzeile eingereiht, die gesamte Grundstücksbreite wird von der Fassade genutzt, es gibt nur eine Hauptansicht zur Straße. Die Rückseiten dieser prächtigen Fassaden waren in der Straße »Beim Holzberg« zu sehen. Für diese Art der Wohnhausgruppen, mit diversen Ziergiebeln, Turmerkern, Masswerkrosetten und anderen Schmuckformen, wurde meist nur ein Architektenbüro beauftragt, sodass geschlossene Straßenzüge entstanden , denen jedoch der im 19. Jahrhundert vertretene Stilpluralismus deutlich anzusehen ist.
Das Lüneburger Architekturgeschehen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde maßgeblich bestimmt durch den Einfluss der an der »Polytechnischen Schule« in Hannover ausgebildeten Architekten. Für die Umsetzung der dort entwickelten Modelle und Vorstellungen waren zwischen 1860 und 1910 die Stadtbaumeister Eduard Friedrich August Maske (1827 – 1889), Stadtbaumeister von 1858 –1889, und Richard Kampf (1857 – 1919), Stadtbaumeister von 1889 – 1919, zuständig. In der Ära Maske setzte sich hauptsächlich der »Hannoversche Rundbogenstil« mit zahlreichen neugotischen Formen durch, in der Ära Kampf dann verstärkt die in ganz Norddeutschland verbreitete Hannoversche Schule der Neugotik. Nach 1900 standen zunehmend lokale Bautraditionen im Fokus, die unter dem Namen »Heimatstil« zusammengefasst wurden.
Die Henningstraße: Zwischen Bahnhof und Kaserne
Über die Bilmer Straße gelangt man in die Henningstraße. Hier, quasi in zweiter Reihe vom Bahnhof ausgesehen, entstanden nach der Jahrhunderwende in großem Stile Arbeiterunterkünfte zur Linderung der Wohnungsnot, die bereits seit den 1870er Jahren bestand. Die Häuser hier sind wesentlich schlichter gestaltet als in der prächtigen Dammstraße. Es geht um die Unterbringung von vielen Menschen auf kleinem Raum, nicht um Repräsentation. Die Henningstraße, benannt nach D. H. Henning, einem bekannten Freiheitskriegkämpfer (in den Freiheitskriegen gegen Napoleon 1813 – 1815), wurde 1913 angelegt. Durch den Ersten Weltkrieg wurden die Bauarbeiten unterbrochen. Katastrophale wirtschaftliche Zustände erschwerten es privaten Bauherren aktiv zu werden. Hier kamen die Baugenossenschaften ins Spiel. Auf Grundlage des »Deutschen Genossenschaftsgesetzes« von 1871 war in Lüneburg noch im selben Jahr die »Gemeinnützige Baugesellschaft AG« gegründet worden. 1901 kam der Beamtenwohnungsverein hinzu, die unter anderem in der Henningstraße und auch in der benachbarten Straße »Am Galgenberg« Häuser errichteten. Bereits seit Beginn des Jahrhunderts, angestoßen durch das Elend der Mietskasernen in den Großstädten und programmatisch durch den »Deutschen Verein für Wohnungsreform von 1898« verbreitet, stand die Diskussion um eine Verbesserung der Arbeiterwohnhäuser im Zentrum architektonischer Diskussionen. Am Ende der Henningstraße öffnet sich das Blickfeld, die enge Bebauung endet hier und der Blick fällt auf Lagerhallen und abermals Schienenstränge sowie das Gebäude der ehemaligen Heeresbäckerei, heute »Kulturbäckerei«, ein multifunktionales Kulturzentrum, und die umgebauten, weißen Speicherhäuser der Theodor-Körner-Kaserne.
Die beiden Letzteren sind noch Zeugen des Lüneburger Sitzes des Heeresverpflegungsamtes von 1936 – 1945. Das Heeresverpflegungsamt war an die nahe Theodor-Körner-Kaserne angeschlossen. Zu vollsten Betriebszeiten gehörten zu diesem Ensemble vier Bodenspeicher, eine alte Bäckerei, ein Verwaltungsgebäude, fünf Rauhfutterscheunen, eine Bodenwaage mit Wiegehaus, Garagen und mehrere Wirtschaftsbaracken. Alle Gebäude konnten mit Eisenbahnwaggons angefahren werden. Die Schienen zweigten von der Lüneburg-Bleckede-Linie ab. Ab 1940 war die Kaserne damit an das Schienennetz der Lüneburger Industrie- und Hafenbahn angeschlossen.
An diesem Punkt befindet man sich an der Grenze des Bahnhofsviertels, über das Speicherquartier gelangt man in das Hanseviertel, einer der jüngsten Stadtteile Lüneburgs. Der Umbau der vier Bodenspeicher zu Wohnhäusern ist ein gelungenes Beispiel der Konversion. Das Büro Esfandiary Möller Architekten aus Lüneburg ist mit der Sanierung und dem Umbau der schlichten weißen Blöcke beauftragt. Über die Rabensteinstraße gelangt man an dieser Stelle in das neue Viertel.
In der anderen, westlichen Richtung führt die Rabensteinstraße wieder zurück zu den Schienen, vorbei am Bleckeder Bahnhof. Überquert man diese Schienen, gelangt man in den »Eisenbahnweg«, der seinem Namen alle Ehre macht mit seiner Lage zwischen den Gleisen. Westlich hinter der Schallschutzmauer liegt die ICE-Strecke Hannover – Hamburg, die zu den meist befahrenen Schienenstrecken Deutschlands gehört. Östlich hinter den Wohnhäusern liegt die Regionalbahnstrecke Lüneburg – Lübeck.
Zwischen Schienen und Kloster: Der Eisenbahnweg
Im Eisenbahnweg lebten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hauptsächlich Eisenbahnmitarbeiter, darunter Schienenarbeiter und Weichensteller, Schaffner und Bahnhofsmitarbeiter. Das Doppelhaus Eisenbahnweg Nr. 3/4 ist hierfür ein gutes Beispiel. Aber auch Bürger mit einem höheren Einkommen, bspw. hohe Militärangehörige und Fabrikbesitzer, fanden hier, so nah an dem Fortschrittssymbol des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts schlechthin, ein Zuhause. So beispielsweise in der Nr. 8. In den letzten 15 Jahren sind etwas zurückgesetzt oder in zweiter Reihe weitere moderne Villen entstanden. Ohne sichtbaren Bruch geht der Eisenbahnweg in Höhe der Unterführung der Bahnlinie Hamburg – Hannover in den »Lüner Weg« über. An dieser Stelle hat man die Möglichkeit, den Spaziergang um einen Besuch im Kloster Lüne zu ergänzen, indem man geradeaus weiter geht. Bereits an dieser Stelle sieht man die Mauern des Klosterfriedhofes. Der angrenzende Klosterforst musste für den Bau der Strecke Hannover – Harburg (die Elbüberquerung erfolgte später) 1844/45 stark abgeholzt werden, was bei vielen Lüneburgern große Proteste nach sich zog. Durch die Unterführung gelangt man in den vorderen Teil des Lüner Weges, eine der schönsten Villen-Straßen Lüneburgs.
Villen zwischen den Gleisen: Der Lüner Weg
Die Bauepoche um 1900 ließ einen neuen „Jahresring von zum Teil zeittypischen Gebäuden um die historische Altstadt“ wachsen, der auch schon in der Dammstraße sichtbar wurde. Der Wohlstand der Gründerjahre lässt aus den früheren Speditionsdynastien Unternehmer werden, die dank einer rasch expandierenden örtlichen Industrie sich bald individuelle Villen im neuen Szeneviertel nahe dem Bahnhof bauen konnten. Die Villen bilden dabei das Gegenstück zu den Stadthäusern der Dammstraße.
„Der Begriff ‘Villa’ ist im 19. Jahrhundert nicht trennscharf definiert und umfasst alle freistehenden und auch halbseitig eingebauten, dann als Halbvillen bezeichneten Familienhäuser sowie Zweifamilienhäuser der gehobenen Klasse, deren deutlich hervorgetragene Repräsentationsfunktion sind in den Dimensionen des Baukörpers sowie in dessen Außenerscheinung und Raumprogramm manifestiert.“
So besitzen die etwa 30 in Lüneburg zwischen 1890 und 1914 errichteten Villen in der Regel zwei Vollgeschosse mit deutlich mehr als 200 qm Wohnfläche, Gesellschaftsräume, eine größere Anzahl von Schlafzimmern, Fassaden mit Ziergiebeln, Ecktürmen, Erkern und Bauschmuck als Versatzstücke der Herrschaftsarchitektur, zu der auch der einen Distanzraum schaffende Garten zählt.
Der Garten der Doppelvilla im Lüner Weg 16/18 ist zwar vor dem Haus nicht mehr vorhanden, er wurde mit der Verbreiterung der Straße für den Autoverkehr zwischen 1920 und 1930 auf das heutige Maß verkleinert. Der Grundriss des Hauses ist jedoch erhalten geblieben und auch heute noch von der Straßenansicht aus zu erkennen: Loggia, Balkone und Seiteneingänge sind noch an ihrem ursprünglichen Platz zu finden, lediglich die abgerundeten Erker wurden reduziert. Auch die Zimmeraufteilung im Erd- und Obergeschoss scheint erhalten geblieben zu sein. Die Trennung von (Wirtschafts-) Keller, Empfangs- (Erdgeschoss) und Wohnräumen (Obergeschoss) geht aus den Grundrissen deutlich hervor:
Das übliche Repertoire für Villen der Hannoverschen Schule umfasste Verblender-Fassaden mit Ecktürmen, Staffelgiebel mit bekrönten Risaliten, Wintergärten und mehrere Balkone, Dachhäuschen, unterschiedliche Fenster- und Gesimsformen, eingesetzte Terrakotten und Glasursteine. Die Wohnhäuser dienten hier auch als Werbeträger der Ziegelindustrie. Die Verschränkung von barockem Erbe und spezifisch bürgerlichen Bedürfnissen nach Repräsen-tation, Privatheit und Wohnkomfort wird hier sichtbar. Bereits im 18. Jh. wurde diese Vorstellung der Raumverteilung des französischen Adels übernommen, besonders hervortretend in der symmetrischen Trennung der Lebensbereiche von Mann und Frau und dem Verständnis von Architektur als Kunst der Wirkung.
Am Ende des Lüner Weges befindet sich ein weiterer Traditionsbetrieb, eine Molkerei mit über 100-jähriger Geschichte: Im Februar 1893 schlossen sich 23 Geschäftsleute aus Lüneburg und der näheren dörflichen Umgebung (z. B. Adendorf, Vögelsen, Gellersen, Reppenstedt) zur „Central-Molkerei Lüneburg, eingetragene Genossenschaft mit beschränkter Haftpflicht zu Lüneburg“ zusammen. Bereits zu Beginn der Produktion konnte der Betrieb 2.000 bis 3.000 Liter Milch täglich verarbeiten, wobei sie auch von der Nähe zum Bahnhof und den dort angeschlossenen Kleinbahnstrecken ins Ländliche profitierte. „Nach einem Bericht der »Winsener Nachrichten« vom 14.9.1911 wurde die Genossenschaft trotz gesunder Finanzwirtschaft, aber zu geringen Milchaufkommens, an ein Konsortium tat- und kapitalkräftiger Landwirte verkauft. 1915 wurde der Betrieb an Ludolf Stamer verpachtet, der ihn 1920 auch kaufte und in Sanitätsmolkerei Lüneburg umbenannte.“ Diese warb mit den Worten:
„Moderner Betrieb mit Dampf- und Kühlanlage sowie mit elektrischer Lichtanlage, Fabrikation feinster Tafelbutter aus pasteurisiertem Rahm, Filialen in allen Stadtteilen, Spezialität: Städtische Milchversorgung in Flaschen, Milchausschank in Schulen, Trinkhallen und Anlagen“.
Inhaberin der Sanitätsmolkerei Lüneburg war später die Milch-Centrale Hamburg G.mbH. Mit Spezialisierung auf die großstädtische Milchversorgung. In den vergangenen 100 Jahren hat das Unternehmen mehrmals den Besitzer gewechselt, zuletzt 2003, als die Hochwald-Gruppe das Milchfrischprodukte-Werk in Lüneburg mit der Marke Lünebest von Nestlé übernahm.
Zur Molkerei gehören heute das moderne Verwaltungs- und Produktionsgebäude im Lüner Weg 2-15, zum Grundbesitz der jeweiligen Molkereiinhaber gehörte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Haus auf der gegenüberliegenden Seite mit seinen Scheinsäulen und weiteren antikisierenden Elementen. Ludolf Stamer hatte mehrere Streitigkeiten mit der Stadt Lüneburg, weil seine Angestellten im Hinterhof unerlaubt Schweine gehalten hatten.
Auf dem Rückweg hat man am Südende des Lüner Weges die Wahl, gen Osten zurück zum Bahnhof zu gehen, gen Westen einen Abstecher in die belebte Altstadt zu machen oder straßenparallel am Altenbrücker Damm die Umwandlung eines Zementwerbebaus wiederzufinden bzw. entlang am Lüner Damm in einer ruhigen Seitenstraße Stille und nördlich anschließend einen kleinen Spaziergang in einem Grünzug parallel zu den Schienenstrecken zu machen.