Der Kreidebergsee

Ein Beitrag von Elke Arndt

Wer in Lüneburg an schönen Tagen einen Spaziergang am Wasser und in der Natur machen möchte, muss dafür nicht weit fahren. Nur ein paar Schritte nördlich der Innenstadt erstreckt sich ein kleines und feines Paradies: Der Kreidebergsee. Spannend für Geologen und Historiker, entspannend für Ruhe-Suchende und Städter an heißen Tagen – dieser See ist eine wahre Vielseitigkeitsperle Lüneburgs.

Geologie

Mächtige Gesteinsschichten der Kreideformation stehen am Kreidebergbiotop als helle Kalkmergel und Kalke dicht unter der Oberfläche. Diese sind für den Besucher sofort sichtbar: Helle Abbruchkanten am nördlichen Seeufer erinnern an die mächtigen Kreidefelsen Rügens. Die hier vorkommenden Kalke bestehen zum größten Teil aus Kalziumkarbonat, welches hauptsächlich aus winzigen Skelettteilchen planktonischer Kalkalgen entstanden ist. In diesen Gesteinsschichten des Zeitalters Oberkreide wurden viele wissenschaftlich äußerst bedeutsame Fossilien gefunden, z.B. Seeigel, Armfüßler, Korallen und Moostierchen.

Vor insgesamt 27 Mio. Jahren bedeckte ein großes Flachmeer das Gebiet zwischen Westeuropa und Westasien. Aus diesem stammen die Ablagerungen, die hier heute noch gefunden werden können – die Oberkreidegesteinsschichten sind fast 400 m dick. Durch sie lässt sich hervorragend nachvollziehen, was sich in diesem Gebiet in den Jahrmillionen evolutionär und ökologisch alles änderte. Gerade für eine lückenlose zeitliche Abfolge der Oberkreide ist das Areal des Kreidebergsees in Mitteleuropa einmalig, denn hier sind die Vorkommen der Gesteine und Fossilien durch den Kalkbruchbetrieb für den Menschen zugänglich worden.

Durch das Empordringen des Lüneburger Salzstocks im nachfolgenden Zeitalter (Tertiär/Braunkohlezeit) entstanden salztektonische Bewegungsvorgänge, die die ursprünglich horizontal gelagerten Meeressedimente der Kreidezeit steil aufrichteten. Die Gesteine zerbrachen daraufhin in Schollen, die diagonal, vertikal und horizontal gegeneinander verschoben wurden – eine Gegebenheit, die Geologen ihre Entschlüsselungsaufgabe sehr erschwerte. Später wurden die Gesteinsschichten durch Bewegungen der Inlandsgletscher von Sand- und Kies bedeckt, in diesem Areal jedoch teilweise nicht mit mehr als einer 60 cm dicken Verwitterungsschicht.

Rohstoffabbau und Industrie

Kalk und Gips werden in der Region schon seit Jahrhunderten abgebaut. Erstmals erwähnt wurde das Gebiet im Jahre 1398: Krytenberch wurde der Berg genannt und seit 1406 wurde an seinem Fuße eine städtische Kalkbrennerei betrieben. Bereits 25 Jahre später nahmen die Kritenkulen dann auch schon einen großen Teil des Kritenberges ein, dessen Abgrabungsvolumen und -tiefe aufgrund der damaligen technischen Möglichkeiten jedoch noch gering waren.

  • Kalksteinbruch am Zeltberg (heute Kreideberg) im Juni 1958, östliche Steilwand mit Kalk- und Zementwerk über der Bruchsohle. Quelle: Allmer, Frank/Horst, Kurt (1995), Abbildung 2, Foto: D. Schumacher, 54.
    Kalksteinbruch am Zeltberg (heute Kreideberg) im Juni 1958, östliche Steilwand mit Kalk- und Zementwerk über der Bruchsohle. Quelle: Allmer, Frank/Horst, Kurt (1995), Abbildung 2, Foto: D. Schumacher, 54.

Verwendet wurde der gewonnene Rohstoff für Mörtel- und Wandweißerherstellung (insbesondere in Bürgerhäusern war der sogenannte Beizkalk wegen seines hohen Weißegrades sehr beliebt) , für die Seifensiederei und als Düngerzugabe für ausgemergelte Acker- und Gartenböden. Seit 1838 erfolgte dann die industrielle Nutzung des Kalkbruchs mit einer leistungsfähigen Kalkbrennerei, später der großtechnische Abbau von Kreidekalk für Düngekalk und Portlandzement. Dieser industrielle Abbau wurde besonders lukrativ, nach dem im 19. Jahrhundert beim Mauern Gips durch Kalk ersetzt wurde. Die ansässige Kalkbrennerei, später Zementfabrik, war dank der reichlich vorhandenen Rohstoffe Ton (in der Umgebung) und Kalk (direkt am Standort) sehr erfolgreich. Um die Jahrhundertwende waren an diesem Standort 300-400 Arbeiter beschäftigt, damit handelte es sich um den größten Lüneburger Arbeitgeber seiner Zeit.

In der NS-Zeit planten die damaligen Machthaber, auf dem Kreideberg Monumentalbauten zu errichten, die eine Aufmarschstraße in Richtung Lüneburg säumen sollten. Aufgrund des Zweiten Weltkrieges wurden diese Pläne nie verwirklicht. Im Zuge der Nachkriegsbesiedlungsmaßnahmen wurde der Kreideberg dann jedoch tatsächlich mehr und mehr bebaut, so dass das Kalkwerk in der Gegend immer störender war. Schließlich wurden die Besitzer Pieper & Blunck so lange von Stadt und Bürgern unter Druck gesetzt, bis sie die Produktion 1963 einstellten und die Anlagen demontiert wurden (außerdem lohnte sich der Betrieb auch wirtschaftlich schon seit einigen Jahren nicht mehr). Als die Wasserpumpen eingestellt wurden, lief die Grube langsam bis auf Grundwasserniveau voll. Der so entstandene See war dann bis 1983 eine Schutthalde der Firma Salzgitter Chemie, bevor die Stadt das Areal in eine Naherholungsanlage verwandelte. Dass die Lüneburger das Gebiet bis zu dieser Zeit Rattenloch nannten, kann man sich heute glücklicherweise kaum noch vorstellen. Heute ist aus der Industrieruine ein innerstädtisches Idyll und Naherholungsgebiet geworden, welches auch ökologisch äußerst wertvoll ist.

Gewässer und Tiere

Bei dem heute bis zu 30 m tiefen See handelt es sich zum einen um ein Stillgewässer-Ökosystem, da die Verweildauer des Grundwassers im See Monate bis Jahre beträgt, zum anderen um einen Brackwassersee, da er sich in den tieferen Bereichen mit solehaltigem Grundwasser aus dem Bereich des Lüneburger Salzstockes vermischt. Er ist insgesamt in etwa halb so salzig wie die Ostsee, aber sehr viel salziger als die meisten anderen norddeutschen Flachlandseen – was das gesamte Ökosystem des Gewässers bedingt und beeinflusst.

Der Kreidebergsee ist die Heimat vieler Goldfische (die seit 1986 von Unbekannten ausgesetzt wurden), aber auch von Hechten, Zandern und Schuppen-Karpfen. Obwohl es hier insgesamt eher zu viele Fische als zu wenige gibt, herrscht in diesem See, der zu den Sondertypen der mesotrophen Seen gehört, Angelverbot.

Augenfällig ist unter anderem die (durch seine Tiefe bedingte) große vegetationsfreie Wasserfläche des Sees, denn nur unmittelbar am Ufer beherbergt er Pflanzen. Und auch diese sind ungewöhnlich homogen: So gibt es fast ausschließlich salzliebende Strandsimsen-Röhrichte, wie zum Beispiel Schilfrohr und Rohrkolben. Grund dafür ist die salzhaltige Ökologie des Biotops.

Der Kreidebergsee wird von erstaunlich vielen Wasservogelarten zur Rast aufgesucht, jedoch nur von wenigen dauerhaft als Wohnort genutzt. Insgesamt wurden hier 52 Vogelarten beobachtet, davon sechs Arten Brutvögel: Haubentaucher, Höckerschwäne, Stockenten, Teichhühner, Blässhühner und Teichrohrsänger. Der See scheint zudem für Wasservögel ein attraktiver Ort zum Überwintern zu sein, so gibt es hier allein 16 Entenarten, unter anderem Meeresenten. Auch Möwen benutzen das Gewässer besonders in den Wintermonaten zum Baden, Trinken und Ruhen. Gelegentlich wurden auch durchziehende Greifvögel beobachtet, die im Kreidebergsee fischten – unter anderem der Schwarze und der Rote Milan oder auch mal ein Fischadler.

Ab und zu machen Mäusebussard und Turmfalke hier Station, ansonsten trifft man in den Wiesen- und Staudenfluren regelmäßig Singdrosseln, Elstern, Rabenkrähen, Stare, Gründlinge, Stieglitze, Gimpel usw. Des Weiteren können mindestens 15 Brutvogelarten als gesicherte Bewohner genannt werden, z. B. der Zaunkönig, die Nachtigall und der Sumpfrohrsänger. Besonders in den mächtigen Schlehen-Brombeergebüschen übernachten viele Vögel.

Es handelt sich insgesamt um einen der tierreichsten Lebensräume unserer heimischen Kulturlandschaft, was sich nicht nur an den Vögeln, sondern auch an anderen Lebewesen zeigt: So gibt es hier eine ausgeprägte Anzahl von Tagfaltern, darunter einige die auf der roten Liste der gefährdeten Arten stehen, z. B. Edelfalter, Augenfalter und Bläulinge. Der Heuschreckenbestand ist für ein so kleines Gebiet ebenfalls bemerkenswert hoch.

  • Kreidebergsee © Arndt
    Kreidebergsee © Arndt

Fazit

Das Kreideberg-Biotop hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Man spricht von einem Lebensraum aus zweiter Hand, weil versucht wurde, eine naturnahe und ökologisch sinnvolle Bepflanzung künstlich wiederherzustellen. Belastungen durch Abwässer, Dünger, Herbizide oder gar Bootsbetrieb gibt es gar nicht, was für siedlungsnahe Seen (und vor dem Hintergrund der langjährigen industriellen Nutzung) nicht unbedingt selbstverständlich ist. Dass Naturnähe vor der Haustür genauso erlebbar wird wie Artenvielfalt in einer städtischen Grünanlage, ist ein großer Zugewinn für die Lebensqualität der umliegenden Bewohner. Der erstaunliche Pflanzenreichtum umfasst insgesamt 235 bekannte Arten, von denen einige gefährdete unter anderem auf der Roten Liste Niedersachsen stehen. Seit 1985 wurde ein Anstieg von 64 auf insgesamt 129 beobachtete Vogelarten in der Grünanlage verzeichnet, deren See insbesondere für rastende Vögel besonders wichtig ist. Allmer und Horst schreiben in ihrem lesenswerten Beitrag über den Kreidebergsee:

Seine noch junge Entwicklungsgeschichte, seine potentielle Bedeutung als Biotoptyp, seine innerstädtische Lage und damit nicht zuletzt seine hervorragende Wertigkeit für Erholung, Bildung und Forschung rechtfertigen, ja erfordern eine wesentlich stärkere Beachtung als bisher.

 

2 Kommentare

    1. Liebe Frau Heidelberg-Stein,

      vielen Dank für Ihren Kommentar, wir freuen uns, dass Ihnen die Beiträge gefallen haben!

      Zu Ihrer Frage: Der Kreidebergsee ist ein alter Kalksteinbruch, in dem es prinzipiell jederzeit zu Abbrüchen und Rutschungen im Steilwandbereich kommen kann. In solchen Fällen gibt es starke Turbulenzen im Wasser und an der Wasseroberfläche, die Schwimmer gefährden können, im Steilwandbereich würde das auch für direkte Gefährdung durch herabstürzendes Gestein gelten. An aufgelassenen, grundwassergefüllten Tagebauen wird deshalb in aller Regel ein vorsorgliches Badeverbot verhängt. Im Falle des Kreidebergsees käme noch hinzu, dass niemand die Gewässerqualität kontrolliert, was für die Zulassung einer Badeerlaubnis erforderlich wäre. Da es keinen Zu- und Abfluss gibt (–> Grundwasserspeisung), bestünde eine permanente Gefahr, dass sich Fäkalkeime dort massiv ausbreiten. Kurzum: die Kommune kann faktisch dort das Baden nicht zulassen, ohne mit einem Bein im Gefängnis zu stehen.

      Mit freundlichen Grüßen,
      Inga Luchs und Peter Pez

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