Ein Beitrag von Anna Christina Koch und Elisa Hantsch
Zwischen 1941 und 1945 verloren circa 1000 Unschuldige ihr Leben in der Lüneburger Psychiatrie: 300 bis 350 Kinder im Zuge der Kinder- und Jugendlichen-“Euthanasie“ sowie 481 Erwachsene im Rahmen der Aktion T4. Eine Gedenkstätte auf dem Gelände der Psychiatrie Lüneburg arbeitet dieses Kapitel der Stadtgeschichte wieder auf.
Gedenkstätte und Ausstellung
Im November 2004 wurde die Bildungs- und Gedenkstätte „Opfer der NS-Psychiatrie“ Lüneburg auf dem Gelände der städtischen psychiatrischen Klinik eröffnet. Hier befand sich zur Zeit der NS-Diktatur eine der größten Kinderfachabteilungen Deutschlands. In Folge des 1934 in kraft getretenen Gesetzes zur „Verhütung Erbkranken Nachwuchses“ fungierte die Anstalt als Sammelstelle für Kinder aus ganz Norddeutschland. Eine Rahmenausstellung dokumentiert die Geschichte der Psychiatrie seit 1901 und setzt einen besonderen Schwerpunkt auf die Jahre der NS-Zeit. Neben Biografien und Originaldokumenten werden auch Informationen über den Anstaltsalltag und Kunstwerke der Patienten ausgestellt.
Geschichte & Psychiatrie im Dritten Reich
Begriffsklärung „Euthanasie“
Euthanasie bedeutet ursprünglich „guter“ oder „schöner Tod“. Die Nationalsozialisten missbrauchten diesen Begriff allerdings zur Tarnung ihrer Verbrechen und Morde an mehreren Hunderttausend Menschen, die von ihnen als „Ballastexistenzen“ eingestuft worden waren. Sie gebrauchten auch häufig die Bezeichnung „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Man unterteilte im Jahrbuch der Caritaswissenschaft von 1935 das „lebensunwerte Leben“ in zwei Bereiche:
Die wirtschaftlich Unterwertigen, wie die Stummen, Blinden, Tauben, Taubstummen, Verkrüppelten, Geisteskranken und Schwerepileptiker […] lasten schwer auf dem Volke. Dazu kommen noch die sozial Unterwertigen, wie die Verbrecher, Hochstapler, Dirnen, Rauschgiftsüchtigen, Asozialen im weitesten Sinne.
Die Euthanasie meinte im Sinne von „Vernichtung unwerten Lebens“ die Tötung schwacher, kranker, körperlich und geistig behinderter Neugeborener als Maßnahme zur Erbpflege, die Tötung von unheilbar Kranken und Behinderten aus Mitleid sowie die Tötung von Langzeitpatienten in psychiatrischen Institutionen, die als behandlungsunfähig galten, aus Gründen der Kostenersparnis.
Am 14. Juli 1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet. Zum Schutz des Erbgutes des deutschen Volkes trat es am 1. Januar 1934 in Kraft und sah auch eine erzwungene Sterilisation von Menschen mit vermeintlich erblichen Krankheiten vor. Zwischen 1934 und 1945 wurden in ganz Deutschland etwa 400.000 Männer und Frauen zwangssterilisiert, wobei über 6.000 Todesfälle auftraten.
Neben den Sterilisationen, welche die Ausbreitung von „krankem Erbgut“ verhindern sollten, umfasste die Rassenhygiene auch die Beseitigung der für die Gesellschaft „vollkommen Unbrauchbaren“. Im Oktober 1939 begannen die „Euthanasie-Aktionen“ des Nationalsozialismus, denen bis 1945 circa 200.000 Menschen zum Opfer fielen.
T4-Aktion
Im Zuge der Aktion T4 wurden sechs Tötungsanstalten in Deutschland eingerichtet, in denen zwischen 1940 und 1941 ca. 70.000 Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung ermordet wurden: Brandenburg, Granfeneck, Hartheim/b. Linz, Sonnenstein/Pirna, Bernburg/S. und Hadamar.
Die Verwaltungszentrale hatte ihren Sitz in der Tiergartenstraße 4, Berlin – daher der Deckname „T4“. Der gesamte Gesundheitssektor wurde gleichgeschaltet und ausgewählte Ärzte in die Aktion T4 eingeweiht. Krankenhäuser sowie Psychiatrien fungierten als Sammelbecken für psychisch Kranke und körperlich Behinderte. Von dort transportierte man die Patienten in die jeweiligen Tötungsabteilungen. Die Durchführung der Abtransporte der Behinderten in die Tötungseinrichtungen wurde durch die „Gemeinnützige Kranken-Transport-Gesellschaft“ (Gekrat) sichergestellt.
Ab 1939 mussten alle Patienten, die in Heil- und Pflegeanstalten untergebracht waren, in der Zentraldienststelle in Berlin gemeldet werden. Verschiedene Gutachter entschieden über ihr Leben und Tod. Zur Tötung verurteilte Patienten wurden von Bussen der „Gekrat“ von der jeweiligen Anstalt abgeholt und zu einer Tötungsanstalt gebracht, um dort unmittelbar nach ihrem Eintreffen in Gaskammern durch Kohlenmonoxid ermordet zu werden. Die Leichen wurden allesamt nach der Tötung verbrannt, die Asche beliebig auf Urnen verteilt und so auf Wunsch den Angehörigen zugestellt.
Die „Aktion-T4“ erfolgte bis August 1941, denn am 24. August 1941 verkündete Hitler, als Reaktion auf zahlreiche öffentliche Proteste insbesondere von Seiten der Katholischen Kirche, den „offiziellen“ Euthanasie-Stopp. Nach einer internen Statistik starben bis zu diesem Zeitpunkt 70.273 kranke und behinderte Menschen in den Gaskammern. Doch nach Abbruch der Vergasungen in den Tötungsanstalten ging das Morden in den Heil- und Pflege-Anstalten unter Geheimhaltung weiter, auch bekannt als die „Wilde Euthanasie“. Dazu wurden zuverlässige Schwestern und Ärzte ausgewählt, die durch überdosierte Medikamente, wie Luminal und Veronal, allmählichen Nahrungsentzug und vergiftete Suppen oder Getränke Patienten direkt in den Anstalten töteten.
Lüneburger Patienten, die der T4-Aktion zum Opfer fielen, wurden wie viele andere norddeutsche Betroffene in die Anstalten Hadamar und Pirna-Sonnenstein gebracht, um dort getötet zu werden. Der ärztliche Direktor der Lüneburger Anstalt Max Bräuner engagierte sich bereitwillig beim Abtransport der ihm zugeteilten Patienten, weshalb Lüneburg die Anstalt mit der höchsten Anzahl an Verlegungen nach Hadamar wurde. Verlegte Patienten wurden zumeist in „Durchgangsanstalten“ gebracht, bevor sie der Tötung zum Opfer fielen. Da nur wenige Patienten die T4-Aktion überlebten, existieren heute kaum Zeugnisse der Opfer oder ihrer Schicksale.
Kindereuthanasie
Kindereuthanasie meint die systematische Tötung von psychisch kranken Kindern im Dritten Reich. Rund 30 Kinderfachabteilungen wurden in Heil- und Pflegeanstalten eingerichtet, in welchen mit Hilfe von Verabreichungen einer Überdosis des Medikaments Luminal, Kindertötungen vorgenommen wurden. 300 bis 350 Kinder fanden so ihren Tod in der Lüneburger Kinderfachabteilung.
Ursprünglich hatte man die Abteilung im Oktober 1941 gegründet, um zur Einführung eines geplanten „Euthanasie“-Gesetzes Grundlagenforschung zu betreiben. Tatsächlich wurde das Gesetz nie in Kraft gesetzt, trotzdem trafen bald die ersten jungen Patienten aus anderen Anstalten in Norddeutschland ein. Ihr Leben in der Kinderfachabteilung begann zumeist mit einer grundlegenden Beobachtung und Begutachtung bei der festgestellt werden sollte, ob Schwangerschaftskomplikationen oder Umwelteinflüsse Ursachen der Erkrankungen waren. Die Erlaubnis zur „Behandlungsermächtigung“ und damit der Tötung der Kinder wurde vom Reichsauschuss in Berlin erteilt. Die dortigen Befugten stützten ihr Urteil auf eine Einteilung der Kinder durch das Anstaltspersonal in „Bildungsfähige“ und „Nichtbildungsfähige“. Die Tötungen erfolgten dann mit Hilfe einer Überdosis Luminal oder Morphium.
Tatsächlich war eine Freigabe zur Tötung kein zwingender Befehl, diese auch durchzuführen. Die meisten Anstalten sträubten sich jedoch nicht dagegen, ihre jungen Patienten zu ermorden. Die meisten Patienten der Lüneburger Kinderfachabteilung stammten aus verschiedenen norddeutschen Anstalten und verstarben nach einer durchschnittlichen Aufenthaltszeit von etwa sechs Monaten. Die Ermordung lief für die Familien der Opfer heimlich ab, indem Todesursachen vorgetäuscht wurden, wie beispielsweise Mandel- oder Lungenentzündungen. Im Laufe der NS-Zeit lebten insgesamt mindestens 695 Kinder in der Lüneburger Kinderfachabteilung. Neben den 300 bis 350 Opfern der Euthanasie starben weitere 100 Kinder durch Mangel- und Fehlversorgung.
Strafverfolgung
Bereits 1945 begann die juristische Aufarbeitung der Vorkommnisse auf dem Gelände der Lüneburger Anstalt. Mit Hilfe von Indizien, Zeugen und Aussagen einiger Beteiligter konnten schließlich drei Personen ausgemacht werden, die nachweislich von den Kindertötungen innerhalb der Klinik gewusst haben mussten. In den 60er Jahren strebte man schließlich ein Verfahren gegen den ärztlichen Direktor Dr. Max Bräuner und seinen Kollegen und Leiter der Kinderfachabteilung Dr. Willi Baumert an. Die Verfahren wurden jedoch auf Grund „andauernder Verhandlungsunfähigkeit“ eingestellt.
Ebenso konnten sich die nachweislich Beteiligte der T4-Aktion der Verantwortung entziehen. Obwohl Beweise gefunden wurden, die eindeutig die Verlegung von Patienten in Tötungsanstalten belegten, kam es nie zu einer strafrechtlichen Verfolgung. Bis heute ist die genaue Zahl der Patienten-Opfer zur Zeit der NS-Diktatur nicht bekannt.
Bildungsarbeit
Die Gedenkstätte widmet sich neben der Pflege der Dauerausstellung auch aktuellen Themen zur Integration von Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen und leistet aktive Aufklärungsarbeit. Hierbei verfolgt man das Ziel, die Öffentlichkeit für gegenwärtige Diskriminierungen von Menschen mit einer Behinderung oder einer psychischen Erkrankung zu sensibilisieren. Auf diese Weise wird ein Zeichen gegen die Isolation und für die Inklusion von psychisch Erkrankten und von Menschen mit einer Behinderung gesetzt.
Im Rahmen des Bildungsauftrages werden auch Inklusionsschulungen angeboten, welche sich über mehrere Tage erstrecken. Für große Gruppen werden außerdem Führungen und Diskussionsrunden außerhalb der regulären Öffnungszeiten ermöglicht.
Kooperationspartner
Die Bildungs- und Gedenkstätte „Opfer der NS-Psychiatrie“ Lüneburg ist Teil eines bundesweiten Netzwerkes verschiedener Einrichtungen und Vereine, die sich mit dem Thema Euthanasie im Dritten Reich auseinander setzen. So bestehen beispielsweise wissenschaftliche Kontakte zur Universität Lüneburg sowie der Volkshochschule Lüneburg, dem städtischen Museum und der ortsansässigen Geschichtswerkstatt. Des Weiteren besteht ein Austausch mit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und dem Verband Deutscher Archivarinnen und Archivare e.V. (VdA).
Die Bildungs- und Gedenkstätte versteht sich als Ort der aktiven Biografienforschung in Kooperation mit den Angehörigen ehemaliger Patienten und auch Angestellten der Psychiatrie Lüneburg. Durch die Verschränkung mit der Gegenwartspsychiatrie bringen sich außerdem viele Bürger der Stadt Lüneburg aktiv in die Geschichtsaufarbeitung und in die Erinnerungsarbeit ein.
Allgemeine Daten
Derzeit wird die Gedenkstätte durch Mittel des europäischen Sozialfonds sowie der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten gefördert und größtenteils durch ehrenamtliche Mitarbeiter betreut. Jeden dritten Samstag eines Monats steht Besuchern frei, die Gedenkstätte kostenlos zwischen 11 und 14 Uhr zu besuchen. Gruppenführungen sind nach telefonischer Voranmeldung unter 04131-601302 möglich. Die Anfahrt kann sowohl mit dem Fahrrad oder Auto als auch dem Bus (Linie 5009 in Richtung Vögelsen) erfolgen.