Ein Beitrag von Maike Ludley und Max Bergmann
„Giebel, Gassen, Graffiti?! – Urban Art öffnet ungewohnten Blick auf Lüneburg“
Wenn man an das Lüneburger Stadtbild denkt, fallen den meisten zu allererst verwinkelte Gassen, Backsteinfassaden und Giebeldächer ein. Schaut man jedoch genauer hin, kann man einen ganz anderen Blick auf Lüneburg werfen und eine ungewohnte Seite entdecken. Dann nämlich sieht man sie an freistehenden Hauswänden, in Durchgängen und Gassen: Großflächige Graffiti und kleine Modifikationen im Lüneburger Stadtgebiet, die einladen, die Stadt unter einem neuen Blickwinkel kennenzulernen.
„Urban Art“ – Kunst im öffentlichen Raum
Solche „Urban Art“, eine künstlerische Bearbeitung des öffentlichen Raums, findet man für gewöhnlich in Großstädten wie Berlin oder Hamburg, die eine ausgeprägte Graffiti-Szene besitzen, denn der Ursprung der „Urban Art“ liegt im Bereich des klassischen Graffiti und hat sich seit den 1960er Jahren immer weiterentwickelt. Früher wurden vor allem die eigenen Namen und Kürzel freihand mit Sprühdosen an die Wand gebracht. Heute bedienen sich die Künstler der „Urban Art“-Bewegung vieler anderer Formen der künstlerischen Gestaltung. Neben Pinseln, Schablonen und Farbrollen, werden auch Poster, Pappmasche und Aufkleber genutzt, um an ganz unterschiedlichen Orten in der Stadt aktiv zu werden. Es geht dabei nicht mehr bloß darum, eine Markierung zu hinterlassen, sondern bewusst den öffentlichen Raum zu gestalten. „Urban Art“ will zur Auseinandersetzung mit der Umgebung anregen und durch Modifikationen den Blick auf das Bekannte verändern, indem es Einschränkungen und Normen des öffentlichen Raums bewusst überschreitet. Deshalb bewegt sich „Urban Art“ auch immer in diversen Spannungsfeldern, die zum Diskutieren einladen: Was ist legal und was ist verboten? Darf das Neue das Alte verändern? Ist „Urban Art“ Kunst oder doch sachbeschädigende Schmiererei? Weil „Urban Art“ im öffentlichen Raum stattfindet ist es nicht nur der verbalen Kritik ausgesetzt, sondern auch dem Umstand der Vergänglichkeit. Zum einen sind die Kunstwerke der „Urban Art“ dem Wetter meist schutzlos ausgeliefert, zum anderen sind sie menschlichen Eingriffen ausgesetzt. Genauso schnell wie ein Graffiti entstanden ist kann es auch wieder überstrichen werden.
„Urban Art“ in Lüneburg? Das Projekt „ARTotale“
Die Lüneburger „Urban Art“ ist jedoch nicht der Auswuchs einer geheimen Untergrundszene, sondern das Ergebnis einer geplanten Aktion im Rahmen der Startwoche 2009 der Leuphana Universität Lüneburg. Seit 2007 findet für die neuen Erstsemester der Universität eine Einführungswoche statt, in der sich die neuen Studierenden kennen-lernen und gemeinsam mit einem Thema auseinandersetzen. Nach der Idee und unter der künstlerischen Leitung des Hamburger Kurators Rik Reinking fand aus diesem Anlass vom 01. bis 09. Oktober 2009 das Projekt „ARTotale“ statt (hier gibt es mehr Informationen zum Projekt). Internationale Künstler der „Urban Art“-Szene wurden eingeladen, um in der Stadt künstlerisch tätig zu werden. Zusätzlich waren die Studierenden aufgefordert, eingeteilt in Kleingruppen, die neuen Kunstwerke im Stadtgebiet und deren Künstler zu entdecken. Darüber drehten sie kurze Videos, die schließlich online gestellt wurden, wo sie heute noch auf der ARTotale-Internetplattform anzuschauen sind.
Doch auch für Touristen und Lüneburger hatte das Projekt „ARTotale“ einiges zu bieten. Während der Aktionswoche lag der Lüneburger Landeszeitung eine besondere Beilage bei: Die Startwochenzeitung wurde jeden Tag von einer studentischen Redaktion erstellt und lieferte mit Berichten und Interviews interessante Hintergrundinformationen über das, was damals in der Stadt vor sich ging. Wer Lust hat nochmal genauer nachzulesen findet die digitale Ausgaben der Startwochenzeitung im Internet. Außerdem wurden einige Kunstwerke aus der Sammlung Rik Reinkings im Rathaus Lüneburg unter dem Titel „Alle Rechte Vorbehalten“ ausgestellt. Seinen Höhepunkt bildete eine Beleuchtungsaktion, die alle neugeschaffenen Kunstwerke in ihr bestes Licht rückte, sodass sie von Interessierten in den Abendstunden betrachtet werden konnten.
Aber auch Lüneburger „Urban Art“ ist Umwelteinflüssen ausgesetzt und sieht sich mit ihrer Vergänglichkeit konfrontiert. Während der Projektphase 2009 bereicherten über 35 Kunstwerke, Installationen und Perfomances das Stadtbild. Heute kann man noch 18 Kunstwerke, vornehmlich Graffiti, entdecken. Um diese Entdeckung für Sie leichter zu machen, haben wir drei aktuelle Karten erstellt. Ob zu Fuß nur durch die Altstadt oder mit dem Rad bis zum Hauptcampus der Leuphana Universität. Entscheiden sie selbst, welcher der Routen Sie folgen möchten!
Graffiti-Touren: Lüneburg neu entdecken!
In der Altstadt Lüneburgs warten Werke internationaler Künstler darauf, von Ihnen entdeckt zu werden. Gerne möchten wir Ihnen hier einen kurzen Vorgeschmack auf das bieten, was Sie auf unseren Touren erwartet.
Lassen Sie beispielsweise das Werk „To die for“ (Nr. 4) des Künstlers Boxi auf sich wirken. Das Graffiti, angefertigt mit aufwendiger Stencil-/Schablonentechnik, basiert auf einer wahren Begebenheit, die einen das Werk mit anderen Augen betrachten lässt. Ein afghanisches Paar wollte entgegen des Wunsches der Eltern heiraten und dafür in den Iran flüchten. Noch vor der Grenze wurden Sie von den Eltern verraten und von den Taliban hingerichtet.
Ein weiteres imposantes Werk findet sich an der Fassade der Oberschule am Wasserturm (Nr. 7). Es zeigt eine große Welle und deutliche Parallelen zum berühmten japanischen Werk „Die große Welle vor Kanagawa“. Doch anders als in diesem Klassiker der Malerei, bleibt das Schiff im Graffiti unberührt – zerschellt nicht etwa, sondern scheint viel mehr auf der Welle zu reiten. Die lateinische Inschrift auf dem Boot besagt übersetzt: „Sie fliegt mit ihren eigenen Flügeln“. Mit der deutlichen Akzentuierung der Weiblichkeit macht die Künstlerin Faith47, eine der wenigen Frauen in der Graffiti-Szene, wie häufig in ihren Werken auf Geschlechterverhältnisse aufmerksam.
Vielleicht ist es Ihnen schon aufgefallen? Auf der Erkundungstour durch die Stadt treffen Sie vielerorts auf aufwendig gestaltete Stromkästen die ebenfalls im Zuge der ARTotale entstanden. Viele sind detailgetreu als kleine Plattenbauten verwandelt und zaubern den Lüneburgern an grauen Tagen ein Lächeln aufs Gesicht. Insgesamt sollten 30 Stromkästen im gesamten Stadtgebiet umgestaltet werden. Also Augen offen halten!
Im Stadtteil „Rotes Feld“ befindet sich das wohl umstrittenste Werk der ARTotale. Es stammt von Bred Downey und bildet das McDonald’s Logo mit dazugehörigem Slogan originalgetreu ab. Das bedeutet, es wurde vom Künstler in keiner Form verändert. Unaufmerksame Fußgänger werden dieses Werk in unserer Welt, in der wir allgegenwärtig Werbebotschaften ausgesetzt sind, gar nicht richtig registrieren. Erst wenn es bewusst wahrgenommen wird, stößt es zum Nachdenken an. Was hat die Werbung eines Fastfood-Großkonzerns auf der Fassade eines Universitätsgebäudes zu suchen? Möchte der Künstler uns vor der „McDonaldization“, also dem Wandel der Gesellschaft hin zu Werten wie Effizienz, Kalkulierbarkeit, Vorhersagbarkeit und Kontrolle warnen? Downey selbst sagt, er kritisiere in seinem Werk das Rebranding der Leuphana Universität Lüneburg im Zuge der Amerikanisierung. Er sieht das Projekt ARTotale als eine der Maßnahmen dieses Rebranding-Prozesses und kritisiert somit im gleichen Atemzug auch das Projekt selbst. Übrigens: Die Universität wusste vorher nicht, was Downey ihnen auftischen würde!
Am Hauptcampus der Leuphana, der ehemaligen Scharnhorstkaserne, warten weitere spannende Graffiti auf Sie. Unter anderem finden Sie hier das Werk zum Gewinnervideo des Videowettbewerbs der Studierenden. Hierbei produzierten die Erstsemester zu den einzelnen Werken eigene Videos, von denen im Anschluss die Besten von einer fachlich kompetenten Jury prämiert wurden. Das Sieger-Video verdeutlicht die Entstehung des Werkes des Künstlers Tryone (Nr. 18). Mittels einer Kanone spritzte er Farbe an die Rückwand eines Hörsaals und nutzte dabei einen Menschen als lebende Schablone. Heute ist das Werk hinter wuchtigen Maschinen und einem Zaun versteckt, aber bei genauem Hinsehen noch zu finden.
Ein weiteres Highlight ist das Graffiti von Daniel Man (Nr. 16) an der Rückwand des Hörsaals Nr. 4. Es erinnert an eine wissenschaftliche Tafelanschrift und soll dem Autor nach die Bildung, die im Innern des Gebäudes vermittelt wird, in den öffentlichen Raum tragen. Frei nach dem Gedanken „Bildung für alle“.
Stadtführung
Sie sind neugierig geworden und möchten die beschriebenen Orte mit eigenen Augen sehen? Die Gästeführer von Stadtführung Lüneburg begleiten Sie gern auf dieser Tour und zeigen Ihnen dabei noch viele weitere Aspekte unserer schönen Stadt. Das Buchungsformular finden Sie hier.