Gründerzeitlicher Ring

Ein Beitrag von Janna Fleddermann

Architektonische Schmuckstücke aus der Zeit um 1900 in Lüneburg

Lüneburg – die Stadt der Backsteingotik und der Fachwerkhäuser? Das sind jedenfalls wohl die ersten Assoziationen, die Ihnen beim Gedanken an die Hansestadt in den Kopf schießen. Doch unsere Stadt hat noch viel mehr zu bieten als nur Mittelalter und Barock. Damit Sie auch die anderen Seiten Lüneburgs kennenlernen, wollen wir Sie entführen durch die Gründerzeit und ihre Architektur. Kommen Sie mit uns auf einen Spaziergang und lernen Sie die vielfältigen und prunkvollen Stile dieser Zeit kennen, und Sie werden Lüneburg in neuem Licht sehen.

Die Gründerzeit – Auf dem Weg in die Moderne

Bevor wir uns mit den architektonischen Kleinoden befassen, die die Gründerzeit in Lüneburg hinterlassen hat, soll ein kurzer Blick auf die geschichtlichen Voraussetzungen geworfen werden, die diesen Architekturstil begünstigt haben. Christian Jansen schlägt die Gründerzeit als allgemeinen Epochenbegriff vor, „denn die nachrevolutionäre Epoche war in vielfacher Hinsicht eine Gründerzeit – nicht allein ökonomisch und nicht nur durch die erfolgreiche Nationalstaatsgründung“. Nein, auch politisch, gesellschaftlich und kulturell war diese Zeit von Neuschaffungen bestimmt.

Geschichtlich gesehen kann man die Gründerzeit von der Märzrevolution 1848/49 bis zur Nationalstaatsgründung 1867/71 datieren. Zwar scheiterte die Revolution, doch ihre Ideen – Einheit, Macht und Freiheit für Deutschland – lebten in den Köpfen der Bevölkerung weiter.

Die fundamentalen Veränderungen der Gründerjahre können vor allem durch den konjunkturellen Aufschwung begründet werden – dieser hatte seinen Höhepunkt ab den 1860er Jahren und mündete nach dem Sieg im Deutsch-Französischen Krieg und durch die daran anschließenden Reparationszahlungen Frankreichs in einem regelrechten Wirtschaftsboom. Auch die Schaffung eines einheitlichen nationalen Wirtschaftraumes ab 1871 und die liberale deutsche Gesetzgebung führten in der Bevölkerung zu Zuversicht und Vertrauen in die ökonomische Zukunft des Landes. Diese Entwicklungen hatten schließlich einen Produktionsausbau und die Gründung vieler neuer Betriebe zur Folge – diesem Umstand hat die Gründerzeit auch ihren Namen zu verdanken.
Ende des rasanten wirtschaftlichen Aufschwungs war der so genannte „Gründerkrach“ – ein großer Börsenkrach – im Jahre 1873. Dieser wurde unter anderem durch spekulative Firmengründungen sowie durch eine Überhitzung der Konjunktur ausgelöst. Vor allem durch besagte Spekulanten war der Begriff der Gründung zu dieser Zeit negativ besetzt. So heißt es im Artikel zum Gründungsbegriff in Meyers Konversationslexikon aus dieser Zeit: „In der That [sic!] wurden Anfang der 70er Jahre (sogen. Gründerzeit) viele faule Gründungen ins Leben gerufen und infolgedessen das Wort ‚gründen‘ mit dem Nebenbegriff des Unsoliden und Betrügerischen behaftet.“

Alles wandelt sich

Die genannten ökonomischen Entwicklungen zogen auch Veränderungen in der Gesellschaft nach sich. Während um 1850 noch der Großteil der Deutschen in Dörfern oder Kleinstädten lebten und in der Landwirtschaft tätig waren, zogen mit der Industrialisierung immer mehr Menschen in die Stadt, um dort in Fabriken zu arbeiten. Im Zuge dessen entstanden viele Mietskasernen, oft von den Unternehmen gestellt, denn damals war diese für den sozialen Wohnungsbau verantwortlich, nicht die Kommunen. Trotz dessen fehlte es an Wohnraum und die Verelendung der Menschen besserte sich nur langsam – viele lebten zu dieser Zeit in Kellerwohnungen oder Wohnungen ohne Heizungen.

Im Folgenden wollen wir uns aber nicht hauptsächlich mit der Arbeiterschaft, sondern mit dem Bürgertum beschäftigen – denn es übernahm die kulturelle Leitung der Gesellschaft in dieser Hochzeit des klassischen Liberalismus. Der so genannte „Gründerzeitstil“ des Bürgertums überlebte auch die wirtschaftliche Stagnation des Gründerkraches und bestand noch weiterhin fort – kulturell und architektonisch beschreibt der Begriff der Gründerzeit also die gesamte Phase der Hochindustrialisierung von 1870 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges in 1914.

Architektur um 1900 – Repräsentation durch Historismus

Mit der Gründerzeit setzte, insbesondere ab Mitte des 19. Jahrhunderts, auch ein großer Veränderungsschub in den europäische Städten ein – ausgelöst durch die Industrialisierung und gründerzeitlichen Stadterweiterungen.

Begünstigt durch den ökonomischen Aufschwung und dem damit verbundenen Wohlstand des Bürgertums als auch durch einem erhöhten Bedürfnis nach Selbstdarstellung wurde die Repräsentation des eigenen Hauses oft durch die Nutzung von Stilen aus der Vergangenheit inszeniert. In diesem aufwändigen Lebensstil orientierte sich das Bürgertum der Industrialisierung stark an der alten Elite – dem Adel. Dieser „Gründerzeitstil“ war also geprägt vom Historismus: dem Rückgriff und der Kombination von Stilrichtungen früherer Epochen. Schließlich wurde der Historismus zum deutschen Nationalstil dieser Zeit.

Stilistische Unterarten sind zum Beispiel die Neugotik, Neorenaissance, der Neobarock oder der Altdeutsche Stil als Ausdruck des neuen Bewusstseins des Bürgertums, das stolz auf sein historisches Kulturgut war. Ein weiteres Merkmal des Stils, vor allem im Endstadium, ist der ‚Eklektizismus‘, also der Kombination von Architekturstilen verschiedener Epochen, wie Antike, Mittelalter und Barock. Mit Fortschreiten der Gründerzeit mehrten sich auch eklektizistische Bauten, die mit der Zeit immer konfuser wurden.

Eine weitere wichtige Architekturschule dieser Zeit, die vor allem in Norddeutschland und somit auch in Lüneburg verbreitet war, ist die ‚Hannoversche Schule‘. Besondere Merkmale dieser sind die Abkehr vom Klassizismus und vom Neobarock und hin zur Neugotik. Auf all diese Architekturstile wir auch in unserem anschließenden Rundgang stoßen.

Der historistische Architektur- und Lebensstil der Gründerzeit behauptete sich bis in das 20. Jahrhundert hinein, wurde aber in späteren Jahren teilweise als unverhältnismäßig protzig bewertet. Denn mit der industriellen Produktionsweise änderte sich die Wertschätzung repräsentativer Zierformen – denn nun konnte der Zierrat in Massen produziert werden. Architektur und Inneneinrichtung wurden, nicht zuletzt durch den Kriegsbeginn, wieder funktionaler und weniger schnörkelhaft – das Ende des Gründerzeitstils.

Die Gründerzeit in Lüneburg: Historisches

Doch nun wollen wir uns Lüneburg zuwenden und einen Blick auf die Geschichte der Stadt werfen – genauer, auf die Gründerzeit in Lüneburg:

Um die Zeit von 1859 […] war Lüneburg noch ein Städtchen von rund 14.000 Einwohnern. Die Stadt hatte eine große Zeit blühenden Handels durch mehrere Jahrhunderte hinter sich. Durch den Erwerb zahlreicher Privilegien, insbesondere der Salzprivilegien, war Lüneburg zu einer der bedeutendsten Handelsstätten zwischen Elbe und Weser geworden und hatte infolge seiner außerordentlich günstigen Lage als bevorzugter Stapelplatz alle Voraussetzungen gehabt und ausgenutzt, um zu Reichtum und wirtschaftlicher Macht zu gelangen.

Doch diese Zeiten der wirtschaftlichen Blüte in Lüneburg waren Mitte des 19. Jahrhunderts längst vorbei – der Dreißigjährige Krieg (1618-48) und die Napoleonischen Kriege (1792-1815) hatten in ganz Deutschland ihre Spuren hinterlassen. Das wirtschaftliche Leben musste im 19. Jahrhundert also mühsam wieder aufgerichtet werden.

Eine gewisse Bedeutung behielt Lüneburg über ihre Stellung für den Frachtverkehr, für den die Stadt eine günstige Lage besaß: Von der Elbe wurden Frachtkähne mit Hilfe von Pferden die Ilmenau aufwärts bis nach Lüneburg gezogen. Dort wurde dann gegen eine Abgabe die Ware auf Frachtwagen umgeladen, damit sie an Land weiterbefördert werden konnte. Dieser Verkehr – und das darauf aufbauende Speditionsgewerbe waren für lange Zeit die einzige Erwerbsquelle der Stadt. Daher wurden die ersten Pläne zum Eisenbahnbau von den Lüneburgern resolut abgelehnt – sie sahen ihre Verdienstmöglichkeiten in Gefahr. Erst langsam, mit der zunehmenden Bedeutungslosigkeit der Stadt als Stapelplatz, wuchs in den Bürgern das Bewusstsein der Notwendigkeit der Eisenbahnanbindung. So wurde 1847 schließlich die Eisenbahnstrecke von Hamburg über Lüneburg nach Hannover und weitere kleinere Strecken eröffnet. Durch die Eisenbahn war Lüneburg nun darauf angewiesen, durch diese günstigen Verbindungen zu großen und kleinen Städten Gewerbe und Handel zu pflegen. Der Anschluss an das Eisenbahnnetz führte auch zur Abtragung des Wallringes und zur Anlegung vieler neuer Straßen, wie wir noch im Folgenden sehen werden. Bis zu dieser Zeit hatte die Stadt ihr mittelalterliches Aussehen weitgehend bewahrt:

Der Stadtwall zwischen dem Roten Tore und der Ilmenau fiel erst 1870 dem Bau des Johanneums zum Opfer und der Graalwall 1883 dem des alten Schwurgerichts und der Mittelschule. Noch führten Gossen durch die Mitte der Straßen, und ein holpriges Straßenpflaster aus nordischen Findlingen ließ die Bauernwagen, die vom Lande in die Stadt kamen, mit lautem Gepolter durch die Stadt rasseln. Erst in den Jahren 1841-1865 wurde allmähliche eine Neupflasterung der Straßen durchgeführt.

Doch mit der Industrialisierung und den mit ihr verbundenen Zuwachsraten in der Bevölkerung wurde auch in Lüneburg die Erbauung neuer Wohnmöglichkeiten nötig. Während, wie bereits erwähnt, 1859 ca. 14.000 Personen in Lüneburg lebten, waren es 1910 bereits ca. 28.000 Personen – also eine Verdoppelung der Einwohnerzahl in nur 50 Jahren!

Der Wohlstand der Gründerjahre, in denen aus den Bürgerfamilien der ehemaligen Spediteurs-Dynastien die Unternehmen einer rasch expandierenden lokalen Industrie wurden, manifestierte sich so auch im Stadtbild: Die Bauepoche um die Jahrhundertwende lässt einen neuen ‚Jahresring‘ mit zum Teil für diese Zeit sehr typischen Gebäuden um den historischen Stadtkern herum wachsen.

Der Gründerzeitliche Ring in Lüneburg

In Lüneburg finden wir nicht nur viele beispielhafte und gut erhaltene Bauten der Gründerjahre, sondern im historischen Kern auch Baudenkmälern aus früheren Zeiten. Da wir in der Altstadt also unter anderem architektonische Elemente der Gotik, Renaissance oder des Barock sowie Fachwerkhäuser bewundern können, fügen sich Gründerzeitbauten im historistischen Stil mit ihrer Neuinterpretation der Vergangenheit ganz besonders gut in das Stadtbild mit ein.

Der Architekturstil in Lüneburg zur Gründerzeit lässt sich grob in drei Phasen unterscheiden, die mit den Amtszeit der beiden damals zuständigen Stadtbaumeister zusammenfallen: 1858-89 war Eduard Friedrich August Maske Stadtbaumeister und 1889-1919 Richard Kampf. Während bei Maske sowohl im Hannoverschen Rundbogenstil sowie neugotisch gebaut wurde, setzte Kampf vor allem auf die Hannover Schule mit ihrer Konzentration auf Neugotik. Ab 1900 folgte dann der Heimatstil, der eher an lokale Bautraditionen anknüpft.

Ein Spaziergang durch das Lüneburg der Gründerzeit

Nach all der  Theorie und Geschichte wollen wir also nun mit unserem Rundgang durch das gründerzeitliche Lüneburg beginnen. Unsere Tour beginnt in der nördlichen Altstadt und führt uns entlang der Schießgrabenstraße schließlich in das Rote Feld.

Route

Route, Open Street Map
Route, Open Street Map

A: Am Graalwall
1: Hindenburgstraße
2: Garlopstraße
3: Reichenbachstraße
4: Am Schifferwall
5: Schießgrabenstraße
6: Altenbrückertorstraße
7: Wasserturm
8: Oberschule am Wasserturm
9: Haagestraße
10: Stresemannstraße
11: Lindenstraße
12: Wilhelm-Raabe-Schule
13: Schillerstraße
14: Graal-Hospital
15: Feldstraße
16: Volgerstraße
17: Kefersteinstraße
B: Barckhausenstraße

Strecke: 4 Kilometer
Dauer: ca. 1 Stunde

Unser Spaziergang beginnt Am Graalwall (Hausnummern 7, 9 und 12). Die Straße entstand vor dem Jahr 1889, denn in diesem Jahr fand eine Abtragung des Walls statt. Die meisten Häuser in dieser Straße sind Mietwohnhäuser und Villen, die nach der Errichtung der Straße erbaut wurden.

Wir halten uns nördlich und biegen nach rechts ab:

Hier befindet sich die Straße Am Springintgut (2, 4, 7, 9-17 [ungerade Nummern]). Diese Straße mit dem ungewöhnlichen Namen wurde nach dem ehemaligen Bürgermeister der Stadt Johann Springintgut, der 1455 als Märtyrer des Lüneburger Prälatenkrieges verstorben ist. Die genannten denkmalgeschützten Häuser wurden im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erbaut und fallen damit in die Gründerzeit.

  • Wohnhaus Am Springintgut 2 (1895) © Fleddermann
    Wohnhaus Am Springintgut 2 (1895) © Fleddermann

Ein hervorragendes Beispiel für die bereits angesprochene Hannoversche Architekturschule ist das Wohnhaus Am Springintgut 2. Das Eckgebäude mit drei Geschossen wurde 1895 erbaut. Hier fallen vor allem die exponierte Hausecke, der gemauerte Erker und die Doppelturmspitzen auf. 1898 wurde nachträglich der reich geschmückte Söller im Fachwerk-Stil hinzugefügt. Wir sehen hier also ein exemplarisches Beispiel einer Mischung von Neugotik und Altdeutschem Stil.

Wir folgen der Straße etwa 200m, bis wir nach rechts abbiegen können:

In die Hindenburgstraße (3/3A, 3B, 4, 22, 79-82, 108, 112/114).  Die Straße ist nach dem Reichspräsidenten der Weimarer Republik, Paul von Hindenburg, benannt. Um 1900 wurde mit der Bebauung der Straße begonnen. In der Straße befinden sich unterschiedliche Baustile: So gibt es dreieinhalbgeschossige Ziegelbauten, die um 1904 erbaut wurden (3/3A, 3B, 4, 79-82). Besonders interessant ist das Logenhaus mit der Nummer 22, welches in den Jahren 1907/1908 erbaut wurde. Der Entwurf des Hauses ging aus einem Wettbewerb hervor, den der Architekt Franz Krüger gewann. Deutlich zu erkennen ist die Steigerung der der Straße zugewandten Fassade von West nach Ost. Der Staffelgiebel sowie Spitzbögen sind neugotische Elemente, die nach Wunsch der Auftraggeber der Interpretation heimischer mittelalterlicher Formen. Da sich der Architekt aber dem Heimatschutz verschrieben hatte, war dieser Bezug auch in seinem Sinne. Ein weiteres interessantes Element ist das über dem Eingang eingelassene Hexagramm mit dem Buchstaben „S“, welches ein Freimaurerzeichen darstellt.

Die Hindenburgstraße 108 ist ein eingeschossiges Wohnhaus, die Hindenburgstraße 112/114 ein zweigeschossiges Doppelwohnhaus.

Nach etwa 600m, die wir die Straße hinunter gehen, geht diese über in eine andere Straße:

In die Reichenbachstraße (1-6, 8-10, 11). Bis 1890 befand sich hier der Bardowicker Wall und der städtische Schlachthof. 1927 wurde die Straße nach dem Senator, Böttchermeister und Ehrenbürger Lüneburgs Johannes Reichenbach (1836-1921) benannt. Auch hier sind zahlreiche Wohnhäuser in verschiedenen Stilen aus der Gründerzeit zu bewundern.

Wir überqueren die Ilmenau und biegen an der Kreuzung nach rechts ab:

In die Straße Am Schifferwall (1/1a, 2/2a, 3, 4), die um 1890 herum angelegt und bebaut wurde. Benannt wurde die Straße nach einem Wall, der vorher diesen Platz einnahm. Weiterhin wurde hier 1894, also ebenfalls in der Gründerzeit, eine Synagoge errichtet. 1938 wurde diese jedoch durch Nationalsozialisten abgerissen, so dass heute nur noch ein Denkmal an die Synagoge erinnert.

Außerdem finden wir hier eine der sechs in Lüneburg erbauten wilhelminischen Villen, und zwar Am Schifferwall 4. Dieses zweigeschossige Eckhaus wurde 1891/92 errichtet. Auch hier sehen wir mit Turmerkern und Spitzbögen wieder neugotische Elemente.

Wir folgen der Straße nach Süden, bis sie übergeht in:

Die Schießgrabenstraße (2/3, 6, 7, 8/9, 10, 11, 12, 13/14, 15/16, 18). Hier lassen sich besonders viele Bauten aus den Gründerjahren finden. Die Benennung leitet sich von der Tatsache ab, dass sich hier ehemals die Schießstände der Stadt befanden. Die Straße ist nur an der Ostseite bebaut, denn an der Westseite fließt die Ilmenau entlang. Der Großteil der Häuser wurde nach der Abtragung des ehemaligen Walls in den 1870er Jahren erbaut.

  • Wohnhaus in der Schießgraben-straße mit Stilelementen der Neorenaissance. © Fleddermann
    Wohnhaus in der Schießgraben-straße mit Stilelementen der Neorenaissance. © Fleddermann

Nach etwa 400 m kommen wir an einer Kreuzung an und sehen auf der rechten Seite eine Brücke. Hier biegen wir ein:

Besagte Brücke ist die Altenbrückertorbrücke, die die Ilmenau überquert und übergeht in die Altenbrückertorstraße (1, 3, 4, 5/6, 9/10, 11/12, 14, 15, 16). Die Straße existiert bereits seit dem 13. Jahrhundert – seitdem ist bekannt, dass hier eine hölzerne Brücke über die Ilmenau führte. 1876 wurde dann die erste steinerne Brücke errichtet, die aktuelle Brücke ist jedoch Ende der 1960er Jahre entstanden. Jedoch ist uns das alte, prächtige Brückengeländer aus der Gründerzeit erhalten geblieben:

Nicht zu verachten ist auch das Wohnhaus an der Altenbrückertorstraße 5. Dieses fast burgartige Gebäude ließ sich der Weichensteller Wiese 1907 errichten. Hier lassen sich Elemente des Fachwerkstils finden.

Wir folgen der Straße in westlicher Richtung und biegen am Ende dieser Straße links ein in Bei der Ratsmühle, in der wir viele ältere Gebäude aus dem Mittelalter finden. Hier biegen wir in westliche Richtung nach rechts ab:

Nun nehmen wir Kurs auf den Wasserturm, den man schon von weitem erkennen kann. Er entstand zwischen 1905 und 1907 und dient heute als Aussichtsturm – der Turm ist 56 m hoch. Wie wir sehen können, ist auch der Wasserturm im Stil der Backsteingotik erbaut und enthält historistische Elemente wie z. B. den Zinnenkranz, der an mittelalterliche Befestigungsanlagen erinnert. Durch diesen Kranz und das flache Dach ähnelt er keinem anderen Turm in Lüneburg und trat durch seine runde Form auch nicht mit den Kirchtürmen der Stadt in Konkurrenz.

Wer möchte, kann nun den Wasserturm besteigen und die schöne Aussicht genießen. Hier kann neben der eindrucksvollen Altstadt auch bereits ein Blick auf den Stadtteil Rotes Feld geworfen werden, in den unser Spaziergang uns noch führen wird. Doch der nächste Punkt unserer Route ist zunächst:

Die Oberschule am Wasserturm, die nur einen Steinwurf vom Wasserturm auf demselben Gelände zu finden ist. Das Gebäude wurde 1872 fertiggestellt und beheimatete ursprünglich das Johanneum. Diese Schule wurde 1406 gegründet und ist somit das älteste Gymnasium Lüneburgs, welches nun jedoch an einem anderen Standort zu finden ist, sodass die Oberschule einziehen konnte.

  • Der Neue Wasserturm (1905-07) © Fleddermann
    Der Neue Wasserturm (1905-07) © Fleddermann

Nun geht es in die der Schule anliegenden Straße, die Haagestraße, welche 1860 nach der Niederlegung des Roten Walls angelegt wurde.

Hier biegen wir links ab:

Und befinden uns direkt im Clamart-Park. Dieser wurde 1874, also ebenfalls im Zeitraum der Grün derzeit, angelegt, und ist benannt nach einer Partnerstadt Lüneburgs in Frankreich. Hier finden wir auch ein denkmalgeschütztes Kriegerdenkmal von Engelbert Peiffer aus dem Jahre 1875. Es erinnert an die im Deutsch-Französischen Krieg (1870-71) gefallenen Soldaten.

Wir durchqueren den Park diagonal in süd-westliche Richtung, biegen in die Friedenstraße ein, die ebenfalls 1860 angelegt wurde und biegen dann direkt wieder links ab in die Rote Straße, bis wir nach einigen Metern an einer Kreuzung ankommen.

Hier können wir einen kurzen Blick in die Stresemannstraße (5 [ungerade Nummern], 4, 6, 8-12 [gerade Nummern]) werfen, die ebenfalls einige Gebäude aus den Gründerjahren vorzuweisen hat, wie zum Beispiel das ehemalige „Restaurant zum Stadtpark“ (Nr. 6).

Doch nun führt uns unser Weg in die westlich gelegene Abzweigung der Kreuzung:

In die Lindenstraße (12, 21), an der sich zwei denkmalgeschützte Häuser befinden: Die Lindenstraße 12 wurde 1880 erbaut, Hausnummer 21 stammt aus dem Jahre 1879.

Wir folgen der Straße etwa 350 m. Dort führt uns unser Weg nach links.

Nun befinden wir uns im Roten Feld, dessen Bebauung hauptsächlich aus der Gründerzeit stammt. Genauer befinden wir uns in der Feldstraße (2-12, 13, 14, 28, 30, 32, 32a, 34, 36), die viele Kleinode der Gründerzeit bereithält und somit ein besonders exemplarischer Straßenzug dieser Jahre darstellt. Hier finden sich auch zwei besondere Bauten der Gründerjahre: Das Graal-Hospital (Feldstraße 28) und die Wilhelm-Raabe-Schule (Feldstraße 30). Beide Gebäude wurden im Stile der Neugotik erbaut – das Graal-Hospital stammt aus dem Jahre 1905, während die Schule 1908 eröffnet wurde.

Die Wilhelm-Raabe-Schule wurde 1830 als private Höhere Mädchenschule gegründet. Da die vorherigen Schulgebäude zu klein für die wachsende Schülerschaft waren, fand der Umzug in das Gebäude in der Feldstraße statt.[22] Dieses wurde 1906 bis 1908 nach einem Entwurf des Stadtbaumeisters Richard Kampf, einem Schüler vom derzeitig bedeutenden Architekten Conrad Wilhelm Hase erbaut. Richard Kampf (1857-1919) hat in seinem Dienst als Stadtbaumeister von 1890 bis zu seinem Tod unter anderem den bereits besichtigten Wasserturm und das Hospital zum Graal entworfen, wie man unschwer am sich ähnelnden Architekturstil erkennen kann.[23] Die Schule ist ein großes, zusammenhängendes Backsteingebäude im historistischen, neugotischen Stil. Beispiele dafür sind unter anderem die Staffelgiebel sowie der massiven Turm mit seinen Spitzbögen. Heute ist die Schule ein Gymnasium in staatlicher Trägerschaft mit 1121 Schülern – Mädchen und Jungen.

Nachdem wir das Schulgebäude von allen Seiten betrachtet haben, biegen wir in die nach Süden liegende Querstraße ein:

Und zwar in die Schillerstraße (1-17 [ungerade Nummern]). Hier können wir viele aus der Gründerzeit stammende Wohnhäuser besichtigen, die alle in den Jahren 1909 und 1910 erbaut wurden.

Unser Weg führt uns nun in die Parallelstraße der Feldstraße, die Kefersteinstraße (auf die wir bald noch einmal zurückkommen werden), der wir in östliche Richtung folgen und die erste Straße wieder links nehmen – die Gravenhorststraße. Dieser folgen wir, bis wir wieder zu Feldstraße kommen. Hier biegen wir in diese rechts ab und auch an der nächsten Ecke gehen wir wiederum in die rechts von uns liegende Straße:

Die Volgerstraße (29, 32, 34, 36). Diese wurde nach dem Lüneburger Lehrer und Rektor Wilhelm Friedrich Volger benannt. Ab 1904 wurde die Straße bebaut – die vier denkmalgeschützten Wohnhäuser sind ebenfalls zu dieser Zeit entstanden. Hier entstanden zum letzten Mal mehrere Villen bzw. villenähnliche Gebäude aus dieser Zeit: die Villen Hölscher (Nr. 29) und Heinzmann (Nr. 32). Sie wurden von den Architekten Franz Krüger und Heinrich Meyer in Anlehnung an Elemente der lokalen Bautradition in der Richtung des Heimatstils entworfen. Jedoch gibt es auch hier noch Versatzstücke der Neugotik wie Staffelgiebel. Durch Verwendung von Fachwerk im Obergeschoss erkennt man, dass zu dieser Zeit bereits eine Abkehr vom Stil der Neugotik stattgefunden hat.[24]

Wir gehen die Straße hinunter, bis wir die nächste Kreuzung erreichen. Hier biegen wir links ein:

In die Kefersteinstraße (9, 37), die nach dem ehemaligen Oberbürgermeister von Lüneburg, Georg Keferstein (1831-1907) benannt wurde. Die beiden Baudenkmale Kefersteinstraße 9 (erbaut 1905/06) und Nummer 37 (erbaut 1907/08) sind beides Wohnhäuser im Stil der Landhausarchitektur.

Nun geht es an der nächsten Kreuzung wiederum links:

Jetzt befinden wir uns in der Barckhausenstraße (8-14 [gerade Zahlen], 16, 18, 24-36 [gerade Nummern]). Diese Verlängerung der Roten Straße wurde ebenfalls nach einem ehemaligen Lüneburger Bürgermeister benannt, und zwar nach Wilhelm Barckhausen (1810–1859). Auch hier finden wir einige Wohnhäuser in diversen historistischen Baustilen.

Hier endet unser Rundgang durch das Lüneburg der Gründerzeit, in das Sie hoffentlich eintauchen konnten. Nach diesen zahlreichen Impressionen haben Sie sich einen Kaffee verdient – zum Beispiel bei Julian’s Cafebar, die ganz in der Nähe liegt: am Wilschenbrucher Weg 29 (Anmerkung: Julian’s Cafébar ist heute geschlossen, stattdessen finden Sie hier Das Kleine Café). Von hier aus können Sie dann in wenigen Minuten die Innenstadt erreichen, die zum Shopping oder zum Museumsbesuch einlädt.

 

Ein Kommentar

  1. Eine beeindruckende Arbeit! In meiner Recherche zur hamburger Speicherstadt und dem Chilehaus stieß ich in der Folge auf das Schattenthema der “Gründerjahre”. Letztendlich war es Kolonialismus mit seiner unvorstellbaren Ausbeutung der deutschen Kolonialgebiete, der das Kapital dieser Zeit so imens anwachsen ließ, daß es sich in der regen und stilistisch so überbordenden Ornamentik ausaggieren konnte. Es wäre ein beackernswertes Feld der Aufarbeitung, dort auch in Lüneburg nochmal genauer hin zu schauen.

    Dennoch, Frau Fleddermann, Ihr Beitrag ist sehr profund!

    Mit freundlichen Grüßen
    Gabriele Rademacher

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